Montag, 17. April 2017

Woche Zwei: Ankunft in der Gastfamilie, Beginn der Projektarbeit, Chennai, Ostern

Samstag Abend schließlich machten wir uns auf die Weiterreise: Zu sechst verließen wir das Guest House und fuhren zu einer Reiseagentur, in deren überaus unangenehm warmen Warteraum wir noch eine gute halbe Stunde verbringen durften, um auf unseren Bus zu warten. Als wir dachten, wir seien noch auf ewig dieser Hitze und ekeligen Luft ausgesetzt, ging es schließlich los. Wir verabschiedeten uns von der Freiwilligen, die nach Pondicherry gehen sollte, und ihrer Koordinatorin und bestiegen den Bus. Allerdings brachte dieser uns nur ein Stück aus der Stadt raus, damit wir unser eigentliches Reisegefährt erreichen konnten, anscheinend hatte darüber eine gewisse Fehlkommunikation geherrscht. Doch wir erreichten unseren Übernacht-Schlafbus relativ problemlos und hatten auch hier wieder Glück, dass die Matratzen relativ bequem waren. Nichtsdestotrotz besaß ich eine unerklärliche Angst um meinen Handgepäck-Trolley, den ich nicht wie sonst meinen Rucksack in das dafür vorgesehene Fach am Fußende meines Bettes packen sollte bzw. durfte, sondern unter das Bett. Damit war er jedoch außerhalb meines Blickfeldes und da in diesem jegliche Wertsachen gelagert waren, war meine Paranoia schließlich ausgeprägt genug, um ihn doch noch in das Bett zu legen, was aber zur Folge hatte, dass meine Schlafposition negativ beeinflusst wurde.

Allen Widrigkeiten zum Trotz erreichten wir Poonamallee, einen Randbezirk von Chennai, in den frühen Morgenstunden Palmsonntags 2017. Natürlich waren wir hungrig und mussten auf die Toilette und waren dementsprechend schlecht gelaunt, sodass uns anfangs wenig auffiel, wie viel für sechs Uhr morgens bereits los war und wie aktiv das Leben zum Vorschein trat. Stattdessen fiel uns vor allem eins ins Auge, und das nicht zum letzten Mal: Der Müll. Irgendwie scheint die Müllentsorgung in Indien anders organisiert zu sein, als in Deutschland, oder zumindest wird auf diese deutlich weniger Wert gelegt. Zwar gibt es Müllabfuhren, diese bekommt man jedoch höchst selten zu Gesicht, woraus sich schließen lässt, dass sie entweder des Nachts arbeiten oder aber einfach Mangelware sind. Aus der Seltenheit von Mülleimern und -tonnen schließe ich allerdings, dass letzteres der Fall ist, was auch der Grund dafür sein dürfte, dass je nach Bevölkerungsdichte viel bis sehr, sehr viel Müll am Straßenrand, in irgendwelchen Hinterhöfen oder auf Brachen liegt, eben da, wo der Müll gerade anfällt. Hin und wieder springt auch eine Müllkippe in das Auge des aufmerksamen Beobachters – wobei man sich dafür schon anstrengen muss, denn sie sind selten und unterscheiden sich auf den ersten Blick nur unwesentlich von bspw. einer Industriebrache –, auf der aber ohne Unterscheidung alles landet, was irgendwie als Müll gilt, außer vielleicht Bio-Abfälle, die verrotten ja schließlich.

Ausgehungert und grummelig legten wir daraufhin einen Zwischenstopp in einem Diner ein, in dem wir erstmal Frühstücken konnten. Nun wurde es spannend: Die letzte Etappe zur Gastfamilie stand an. Im Gegensatz zu dem Mädchen aus unserer Gruppe, deren Familie das Wochenende nicht da war und die deshalb für eine Nacht bei unserer Koordinatorin Sandhiya schlief, mussten mein Mitfreiwilliger und ich den letzten Abschnitt alleine bestehen. Wir wurden kurzerhand in den Bus gesetzt, uns wurde gesagt, wo wir den Bus wieder verlassen mussten, und schon waren wir auf uns allein gestellt. Als problematisch erwies sich allerdings, wie sich später herausstellen sollte, dass unsere Koordinatorin uns die Endhaltestelle als Ausstiegsort angab, dem Conductor (in Indien gibt es pro Bus ein Team aus Driver und Conductor; während der Driver fährt – wer hätte das gedacht –, rechnet der Conductor die Tickets ab) allerdings eine bereits früher zu passierende Haltestelle, sodass wir – für uns plötzlich, unvermittelt und verwirrend – relativ früh angewiesen wurden, den Bus zu verlassen, während wir immer noch in dem Glauben waren, zur Endhaltestelle zu müssen, an der wir dann unseren Gastbruder anrufen sollten.

So standen wir nun irgendwo im Nirgendwo in dem Glauben, weitere drei Kilometer laufen zu müssen. Die aufsteigende Tropensonne hielt uns nicht davon ab, unser Glück zu versuchen und so liefen wir vorbei an ärmlichen Häusern, Palmen und Palmsonntags-Prozessionen, für die wir als Weiße eine große Attraktion darstellten. Nach einer guten Viertelstunde hatten wir allerdings genug, wir bedeuteten einem Rikscha-Wallah anzuhalten und versuchten ihm zu erklären, dass wir zur örtlichen zentralen Bushaltestelle wollten. Dies funktionierte leider mehr schlecht als recht, der Fahrer sprach nämlich quasi kein Englisch, aber irgendwie gelang es uns unter Beihilfe eines des Englischen mächtigen Verkäufers, ihm unseren Zielort zu nennen. Die 100 Rupien, die das fünffache dessen bedeuten, was man eigentlich hätte zahlen müssen, fielen kaum ins Gewicht, als wir dachten, endlich am Ziel zu sein. Die nun anstehende Kontaktaufnahme mit unserem Gastbruder, dessen Handynummer Sandhiya uns glücklicherweise noch während des Orientation Seminars überlassen hatte, erwies sich als die nächste Hürde. Jedoch gelang es uns irgendwie, einen der Busfahrer davon zu überzeugen, bei der uns gegebenen Nummer anzurufen – der eigentliche Plan war, dort selbst anzurufen, aber anscheinend geben Inder nicht gerne ihr Handy aus der Hand, so zumindest mein Eindruck – und so kam unser Gastbruder, Abu, mit einem weiteren Freund, um uns abzuholen und zu unserer Gastfamilie zu bringen.

Von unserer Koordinatorin wussten wir, dass unsere Gastfamilie christlichen Glaubens sei (Dies sollte zu einem weiteren interessanten Erlebnis führen, von dem ich noch berichten werde). Deshalb war es zunächst wenig verwunderlich, niemanden im Haus anzutreffen, schließlich war ja Palmsonntag. Wir versuchten zunächst, uns von der strapaziösen Reise in dem uns zugewiesenen Zimmer auf der Dachterrasse im zweiten Stock des Hauses zu erholen. Das Haus selbst ist, wie wir sehr bald feststellen durften, für indische Verhältnisse sehr geräumig, insgesamt scheint die Familie relativ wohlhabend zu sein. Gegen Mittag wurden wir zum Essen ins Wohnzimmer gerufen, wir wurden der Familie vorgestellt und überreichten unsere Gastgeschenke – wie diese aufgenommen worden sind, kann ich allerdings nicht sagen. Wir wurden sehr freundlich Willkommen geheißen und durften tatsächlich auf dem Boden sitzend von Palmenblättern essen. Diese vermeintlichen Esstraditionen nahmen leider sehr schnell ein Ende, von Palmenblättern haben wir seitdem nicht mehr gegessen und auf dem Boden sitzen wir seit ein paar Tagen auch nicht mehr. Den weiteren und auch den nächsten Tag verbrachten wir mit dem Versuch, Schlaf nachzuholen, was sich jedoch als schwierig herausstellt, wenn zwischen Boden und einem selbst nichts als eine Bastmatte ist, mit Lesen und entspannen. Montag Abend schließlich wurde uns von Abu das Dorf gezeigt, welches ca. 500 Einwohner hat. Dabei wurden wir auch Thomas vorgestellt, einem jungen Studenten und Freund Abus, der ebenfalls die Verantwortung für uns übernommen hat. Es war dann vor allem Thomas, der uns über die örtlichen Begebenheiten aufklärte, uns die Schreine und Läden zeigte und uns einigen Bewohnern vorstellte, sodass wir sogar in ein Haus auf einen Kaffee eingeladen wurden.

Am Dienstag hieß es für uns früh aufzustehen, um 9 Uhr sollten wir bereits an der Busstation in Poonamallee sein, um von dort aus nach Kancheepuram zu fahren. Kancheepuram ist eine ca. 165000 Einwohner fassende Stadt gut 70 Kilometer südwestlich von Chennai. Sie gilt als eine der sieben heiligen Städte des Hinduismus und ist gespickt mit alten Tempelanlagen, zudem ist sie bekannt für ihre hochwertigen Seidenstoffe. Der Grund für diesen Ausflug war der, dass meine beiden Mitfreiwilligen, Joelle und Luca, sich bei dem dortigen Polizeibüro registrieren lassen mussten, da ihr Visum für mehr als 180 Tage gültig ist, beide bleiben nämlich für elf Monate in Indien. Auch wenn ich sie dabei nicht hätte begleiten müssen, tat ich das doch gerne, denn als kulturell interessierter Mensch wollte ich unbedingt die Tempel sehen. Blöd nur, dass wir Kancheepuram erst gegen elf erreichten, weil Sandhiya zu spät war, und von da an noch weitere drei Stunden auf den Fluren der Polizeiwache verbringen durften. So war es bereits 14 Uhr, als wir endlich wieder Tageslicht erblickten und dementsprechend hungrig waren wir. Nachdem der Hunger gestillt war, blieb leider nur noch ein wenig Zeit für den Besuch einer Tempelanlage, die wiederum dadurch weiter verkürzt wurde, dass der Tempel bis 16 Uhr verschlossen war. Also vertrieben wir uns die Zeit in einem Laden, der mit Seidenstoffen handelte. Die meisten dieser Stoffe waren sehr schön und dazu noch verhältnismäßig billig, wenn man bedenkt, was man an einem der Touristenhotspots für auch nur ansatzweise vergleichbare Ware bezahlt hätte. Als Joelle endlich zufriedengestellt war, konnten wir den Tempel betreten. Der Besuch desselben war wirklich beeindruckend, die schiere Pracht der Tortürme, versehen mit unzähligen Figuren, die bis ins kleinste Detail ausgearbeitet sind. Dazu die Weitläufigkeit der Anlage, die sich vor allem um den zentralen Schrein und ein großes Wasserbecken anordnet, kombiniert mit einer himmlischen Stille. Zu blöd, dass wir nach einem kurzen Rundgang bereits zurück in Richtung Chennai aufbrechen mussten.

Mittwoch schließlich war es soweit: Der erste Tag im Projekt. Unsicherheit darüber, wie wir dorthin kommen sollten und wie lange der Weg dauern sollte, schließlich sollten wir planmäßig um 10 Uhr anfangen, schienen nur bei mir gegeben zu sein. Unser Gastbruder und unsere Koordinatorin hatten hingegen die Ruhe weg; Sandhiya sogar so sehr, dass sie erst um 10 den Bus zu der Station nahm, an der wir uns mit ihr und Joelle treffen wollten, sodass wir erst gegen kurz vor 11 unsere Reise fortsetzen konnten. In Redhills schließlich angekommen, eine gute Stunde später, mussten wir ebenfalls noch den Umweg über einen Shared Jeep nehmen, um das Projekt zu erreichen. Dort wurden wir bei Mrs. Shiranee, der Projektleierin und -gründerin vorstellig, sie zeigte uns das Gelände, und wir durften für den Nachmittag bereits erste Aufgaben übernehmen, was beinhaltete, die Pferde zu bürsten und einen Teil der Hunde zu waschen. In der Tierauffangstation, die als Standort Chennai der Organisation „People for Animals“ fungiert, leben insgesamt ca. 850 Tiere, davon alleine 350 Hunde, aber auch Katzen, Pferde, Rinder, Vögel, Ziegen, Esel, Schweine und sogar ein Affe. Mrs. Shiranee hat es sich zum Ziel gesetzt, ausgesetzten Haustieren einen Zufluchtsort zu bieten, dementsprechend missgestaltet kommen viele der Tiere in dem Projekt an, einige haben sogar tiefe Fleischwunden, und fast alle Hautprobleme. Sie versucht auch, ausgemusterten Polizeipferden ein Zuhause zu bieten, ebenso wie sie versucht, Katzen, die eigentlich von Roma gefangen werden, um sie zu essen, von diesen zu befreien und sie aufzunehmen. Allerdings ist ihre Arbeit wie ein Tropfen auf dem heißen Stein, denn das eigentliche Problem liegt im generellen Umgang mit den Tieren in Indien, deren Leben häufig wenig bis gar nichts zählt. So bestürzend und bedrückend diese Arbeit, die hauptsächlich aus Hautpflege der diversen Tiere, Füttern und Zuwendung besteht, zuweilen ist, so befriedigend und glücklich machend kann sie im nächsten Augenblick sein. Man fühlt sich häufig, als kämpfe man gegen Naturgewalten wie das Meer, einen Kampf, den man nicht gewinnen kann, z.B. wenn man aus dem Fell der Hunde unzählige Zecken entfernt, obwohl man weiß, dass der gleiche Hund am nächsten Tag bereits wieder ähnlich viele Parasiten zwischen seinen Zehen sitzen haben wird. Wenn man die teils aufgrund ihres Alters oder ihres Zustandes, in dem sie eingeliefert wurden, extrem leidenden Tiere sieht, kommt man sich vor wie ein Palliativmediziner; man kann ihr Leiden nicht beenden, man kann es nur leichter machen und irgendwie sein Gewissen beruhigen, indem man sich sagt, man habe sein Bestes getan.

Nun gut, genug des Weltschmerzes. Während wir Karfreitag, der dieses Jahr auf das tamilische Neujahrsfest fiel und damit ein offizieller Feiertag war, nicht hätten arbeiten müssen, dies aber trotzdem taten, hatten wir Samstag und insbesondere Sonntag tatsächlich frei. Ich nutzte den ersten Tag, um relativ spontan in das Stadtzentrum von Chennai zu fahren, blöderweise aufgrund diverser Missverständnisse leider alleine. Nach einer gut dreiviertelstündigen Zugfahrt erreichte ich die Madras Central Station. Ursprünglich hatte ich mir vorgenommen, mehrere der sehenswerteren Gebäude aus der Nähe zu betrachten, was allerdings meistens leider nicht möglich war. Stattdessen besuchte ich den Marina Beach und wanderte insgesamt gut 18 Kilometer durch die Stadt, die mich vor allem durch ihre Lebendigkeit, aber durch die Zahl der Leute und die Menge an Müll, faszinierte. Für Ostersonntag hatte ich meiner Gastfamilie versprochen, mit ihr den Gottesdienst zu besuchen. Erst zu dieser Gelegenheit offenbarte sich mir, dass unser Gastvater Priester ist und somit den Gottesdienst leiten würde. Dieser begann, anders als beispielsweise in einem katholischen Gottesdienst, mit rund einer halben Stunde Gesang, während nach und nach die einzelnen Gemeindemitglieder eintrafen. Der Gesang wurde unterlegt durch rhythmisches Geklatsche und Percussion, sodass sich eine immer größere Spannung aufbaute, bis die Gemeindemitglieder der Ekstase naheschienen. Insgesamt erinnerte mich der Gottesdienst stark an den amerikanischer Gospel-Kirchen und wie sich herausstellte, ist meine Gastfamilie Teil einer Pfingstbewegung. Auch wenn ich kein Wort verstand – dies wurde während der Predigt besser, da ich einen Übersetzer zur Seite gestellt bekam, den ich allerdings aufgrund der Lautstärke mehr schlecht als recht verstehen konnte –, so berührte mich insbesondere der Gesang sehr, ebenso wie die familiäre Atmosphäre, die allerdings eher der geringen Größe der Gemeinde von ca. 25 Leuten zuzuschreiben war. Ich wurde gesegnet und durfte mich vorstellen und bekennen. Nach einem gemeinsamen Frühstück hatte ich etwas Zeit für mich, die ich dazu nutzte, auszuspannen. Gegen Abend ging es dann zum Volleyballspielen ins Dorf, bei dem ich den letzten Abend meiner ersten Woche in meiner Gastfamilie beschloss.

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