Montag, 24. April 2017

Woche Drei: Die Geißel des Rassismus

Mit Beginn der zweiten Arbeitswoche kehrte so langsam Normalität ein: Der Weg zum Projekt war uns nun bekannt, ebenso wie der grobe Arbeitsablauf dort. In einem weiteren Gespräch mit unserer Projektleiterin, Mrs. Shiranee, stellten sich auch viele der Befürchtungen, die uns durch unsere ersten Eindrücke vermittelt worden waren, als unbegründet heraus (hier geht’s übrigens zur Facebook-Seite des Projektes: https://www.facebook.com/peopleforanimalschennai/ ). So hatten wir z.B. geglaubt, die Hunde seien nicht kastriert und viele der schwangeren Tiere seien dies, also schwanger, erst im Tierheim geworden. Tatsächlich werden jedoch, sofern ein zu hohes Alter dies nicht verhindert, alle Rüden kastriert. Einziges wirkliches Problem ist jedoch das begrenzte Budget, da sich das Projekt nur durch Spenden finanziert und gleichzeitig, anders als in Deutschland, wenige der Tiere das Heim wieder verlassen, es also keine Abnehmer für rehabilitierte Hunde, etc. gibt, es sei denn, eines verstirbt, was leider nicht allzu selten vorkommt. Insbesondere die Welpensterblichkeit ist aus meiner Sicht erschreckend hoch, wobei ich aber gestehen muss, nicht beurteilen zu können, wie hoch eine „normale“ Welpensterblichkeit ist, da ich vor der Arbeit nie wirklich Umgang besonders mit Hunden hatte.


Aber back to topic: Die erste wirkliche Arbeitswoche verlief, verglichen mit der halben davor, wie im Flug. Wir begannen, die Mitarbeiter besser kennenzulernen, lernten Namen – der Mitarbeiter wie der Tiere – und versuchten, auch unsere Kommunikationsfähigkeit zu verbessern. Nebst der drückenden Hitze, die an manchen – den meisten – Tagen aus Temperaturen von bis zu 39°C bestand, gab es allerdings auch ein anderes Problem: Langeweile. Aufgrund der recht hohen Zahl an Freiwilligen in dem Projekt – wir sind derer drei – war es so, dass Phasen der Hochbetriebsamkeit mit Phasen, in denen das Nichtstun förmlich auf die Spitze getrieben wurde und wir als reine Beschäftigungstherapie Hunde entzeckten, wechselten. Es mag dies auch der Tatsache geschuldet sein, dass wir erst seit anderthalb Wochen dort sind, natürlich kann man einem Ungelernten keine verantwortungsvollen Aufgaben überantworten, und dementsprechend hege ich die Hoffnung, dass dies sehr bald besser werden wird. Doch in der vergangenen Woche hatte ich nicht selten das Gefühl, meine Zeit zu vertrödeln und absolut unnütz zu sein.


Da unser Projekt selbst in dem Vorort von Chennai, in dem es liegt, sich nochmal am Rande befindet, endet unser Weg nicht mit der letzten Bushaltestelle, sondern wir müssen wahlweise eine zehnminütige Rikschafahrt oder einen halbstündigen Fußmarsch auf uns nehmen. Dieser Weg war und ist, vor allem zu Beginn, Grund zahlreicher abenteuerlicher Begegnungen und Ereignisse.

Als Individuum europäischer Herkunft fällt man in einem Land, in dem sich Abseits der großen Touristenhotspots nur sehr wenige hellhäutige Menschen aufhalten, sehr stark auf. Leider ist die helle Haut von Menschen sehr häufig mit einem gewissen vorgefertigten Bild konnotiert, dessen Bekanntschaft wir leider bereits mehrfach machen durften.

Unsere erste Begegnung mit dieser anderen Art des Rassismus erfuhren wir, als wir zu unserer Gastfamilie gelangen wollten. Von dem Rikschafahrer, der uns deutlich mehr abknöpfte, als normalerweise für die gefahrene Strecke üblich ist, habe ich schon berichtet. Ähnliches kam in unserer ersten Arbeitswoche häufiger vor, Rikschafahrer verlangten deutlich überhöhte Preise und waren nicht bereit, sich auch nur ansatzweise dem Normalpreis anzunähern, obwohl dieser uns bekannt war. Dies resultierte in eine hohe Frustration meinerseits, anscheinend wird helle Haut automatisch mit Reichtum verknüpft. Ja, wir sind, selbst als Freiwillige mit einem monatlichen Taschengeld von 100€ dank der extrem niedrigen Lebenshaltungskosten in Indien überdurchschnittlich wohlhabend. Aber ist das ein Grund, unsere Unerfahrenheit und mangelnden Kenntnisse der örtlichen Gepflogenheiten sowas von auszunutzen und versuchen, uns jedes Mal abzuziehen? Sehr viel bezeichnender war für mich eine Busfahrt zum Projekt, während der Folgendes geschah: Nachdem wir einen vergleichsweise niedrigen Preis für die Tickets gezahlt hatten – irgendwie ist uns immer noch nicht klar, was der Unterschied zwischen den einzelnen Busarten ist, der einen Preisunterschied rechtfertigen würde, da beide Bustypen quasi identisch sind –, kam der Conductor auf halbem Wege erneut zu uns, brabbelte uns auf Tamil zu, von dem wir natürlich kein Wort verstanden und deutete auf seine Tickets und seine Geldbörse. Irgendwie gelang es uns zu verstehen, dass wir anscheinend nicht genug für die Strecke bezahlt hatten und jetzt nochmal zahlen sollten. Leider war auch keine der uns umgebenden Personen des Englischen mächtig genug, um die Situation vollends aufzuklären. Nichtsdestotrotz versuchten wir, da er genau den gleichen Betrag verlangte, den wir bereits bezahlt hatten, ihn darauf zu verweisen, dass wir bereits bezahlt hätten und er kein Recht habe, den doppelten Fahrpreis zu verlangen, indem wir ihm unsere Tickets zeigten. Diese griff er sich, zerknüllte sie und warf sie kurzerhand aus dem Fenster. Perplex und maßlos mit der Situation überfordert, blieb uns nun nichts anderes mehr übrig, als zwei neue Tickets zu kaufen.


Zum Glück war dies bisher ein Einzelfall, der mich dennoch zutiefst verstört hat. Was gibt es für einen Grund, zwei andere Menschen in aller Öffentlichkeit so schamlos auszunutzen? Ich weiß, dass ich fremd in diesem Land bin, es springt mir ja förmlich an jeder Ecke ins Gesicht. Aber es macht die Eingewöhnung nicht gerade leichter, wenn man begafft wird, wie ein exotisches Tier, sobald man Menschen auf der Straße begegnet, oder überall höhere Preise aufgerufen werden, nur weil man eine andere Hautfarbe hat. Vor allem in Indien, das abwechslungsreich und divers ist, wie kaum ein zweites Land, was Kulturen betrifft, Sprachen, Religionen, Traditionen, und selbst Hautfarbe und Aussehen, hat mich dies überrascht. Mal im Ernst, abgesehen von der Haar- und Augenfarbe habe ich wenig Regionen gesehen, in denen die Menschen so unterschiedlich und alle auf ihre Weise einzigartig sind. Andererseits fügen sich diese Erlebnisse auch in ein Bild, das sich durch vorherige Informationen gebildet hatte.

Um dieses Bild umfassend beschreiben zu können, möchte ich kurz etwas über die unterschiedlichen Sprachfamilien in Indien, seine Geschichte und die politische Situation loswerden. Neben den heute nur noch in geringer Zahl vertretenen Adivasi, den Tribals, die als die Ureinwohner Indiens gelten, gibt es zwei große vermeintliche Ethnien, die sich vor allem über ihre unterschiedlichen Sprachen definieren. Zum einen wären da die Menschen, die die indogermanischen indoarischen Sprachen sprechen, also z.B. Hindi-Urdu, Bengali, Marathi und das klassische Sanskrit (das allerdings nicht mehr gesprochen wird, sondern nur geschrieben). Die sich damals selbst als Arier bezeichnenden Menschen wanderten vor 3500 Jahren in Wellen auf den indischen Subkontinent ein und verdrängten die bereits dort ansässigen dravidisch sprechenden Menschen in den Süden Indiens, wo die dravidischen Sprachen wie Tamil, Kannada, Telugu und Malayalam noch heute dominieren. Im Zuge des Europäischen Imperialismus wurden die Sprecher der jeweiligen Sprachfamilien mit Ethnien gleichgesetzt, sodass eine vermeintliche Dichotomie zwischen indogermanischen Ariern und den Draviden geschaffen wurde, wobei beiden auch unterschiedliche äußerliche Eigenschaften zugesprochen wurden: Auf der einen Seiten die großgewachsenen, hellhäutigeren, zivilisierteren und mannhaften Arier, auf der anderen Seite die gedrungenen, dunkelhäutigen, primitiven und weibischen Draviden. Aufgrund der Tatsache, dass im Kastensystem ebenfalls in seiner Hierarchie Unterschiede gemäß der Hautfarbe widerspiegelt, bildete sich schnell die sozialdarwinistische Theorie, die Indoarier hätten die Draviden unterjocht und sie zu Angehörigen niedriger Kasten oder Kastenlosen gemacht.
Tatsächlich erschufen die Europäer künstlich diese Dichotomie von arischer und dravidischer Rasse, genauso wie sie aus dem theoretischen Konstrukt des Kastensystems eine politische Realität machten, in der Annahme, dies sei die Realität. Dies und die britische Kolonialherrschaft an sich, während der die indische Bevölkerung eine helle Haut als erstrebenswert erfuhr, haben dazu beigetragen, dass diese zu besitzen, wie fast überall in Südostasien, als großes Schönheitsideal betrachtet wird und Unmengen an Geld in den Kauf von Mitteln, die die Haut bleichen lassen, investiert wird (Zwar wird in Indien anscheinend generell sehr viel mehr in Schönheitsprodukte investiert, aber das ist eine andere Geschichte). Dies hat solche Ausmaße angenommen, dass Menschen mit hellerer Haut sogar bessere Job- und Heiratschancen haben. (Mehr Infos zu dem Thema hier: https://www.theguardian.com/world/shortcuts/2013/aug/14/indias-dark-obsession-fair-skin )

Es lässt sich also feststellen, dass die Hautfarbe in diesem Land eine Rolle von extremer Wichtigkeit spielt, was auch die Reaktionen auf unser Aussehen in Teilen erklärt (neben einer gehörigen Portion Dreistigkeit, denn die meisten Leute sind wirklich ausgesprochen nett und hilfsbereit). Ein Problem, dass meines jedoch vergleichsweise winzig erscheinen lässt, ist der von der Regierungspartei BJP ausgeübte Rassismus. Die Partei des Premierministers Modi verfolgt eine sogenannte hindu-nationalistische Politik, zu der gehört, Hindi als dominierende Sprache durchzusetzen und eine gemeinsame indische Vergangenheit zu konstruieren (so wird die indoarische Migration nach Indien geleugnet und behauptet, beide Sprachfamilien seien gleich lange in Indien ansässig und hätten eine gemeinsame Grundlage) mit dem Ziel, eine hinduistische Nation zu bilden und die anderen Kulturen zu verdrängen oder in die Bedeutungslosigkeit abzuschieben. Ein hinduistischer Chauvinismus also. Und wenn Politiker sich zu rassistischen Aussagen hinreißen lassen, wird auch das versucht, hinterher zu leugnen (http://www.ecoti.in/gWZv2Y).
Auch wenn das ewige Gestarre oder das ständige Von-der-Seite-angesprochen-Werden oder die Tatsache, dass sogar geglaubt wird, Weiße hätten magische Heilungskräfte, nervt, gibt es größere Probleme in diesem Land. Eines davon ist Rassismus. Indien hat ein reales Problem mit Rassismus. Und wie fast überall trifft es die Menschen, die einfach nur eine dunklere Haut haben, als das vermeintliche jeweilige Ideal es vorgibt. Das ist nicht fair. Zwar merkt man in diesem Landesteil relativ wenig davon, da viele Menschen sehr dunkle Haut haben, aber andererseits ist es sehr auffällig, wie Hell die Haut der Menschen in der Werbung, in Filmen oder im Sport ist. Vielleicht betrachten auch die Menschen in Südindien helle Haut tatsächlich als erstrebenswert und verhalten sich deswegen so. Vielleicht ist das auch ihr freier Wille. Aber es ist nicht gerade angenehm, täglich damit konfrontiert zu sein.




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