Montag, 15. Mai 2017

Woche Sechs: Sag, wie habt ihr's mit der Religion?

Zurück in Chennai kehrte der Alltag wieder ein, bestehend aus der Projektarbeit und dem gemeinsamen Essen in der Familie. Dieser wurde nur unterbrochen durch einen Zoobesuch am Donnerstag: Einmal im Monat steht mir als regulärem, nicht vom BMZ oder Bundesfamilienministerium gefördertem Freiwilligen ein sogenanntes „Cultural Event“ zu. Dieses besteht aus monatlich unterschiedlichen Aktivitäten, in der Regel Ausflüge zu wichtigen historischen oder kulturellen Stätten, aber auch z.B. Besuche von Hochzeiten oder Ähnlichem, die der Freiwillige gemeinsam mit seiner Koordinatorin oder seinem Koordinatoren unternimmt.

Der Eingang des Zoos

In meinem Falle besuchten wir den „Arignar Anna Zoological Park“ ca. 30 Kilometer südwestlich des Stadtzentrums. Mit über 500 Hektar Ausdehnung und etwa 2200 Tieren ist er der größte Zoo Indiens und beherbergt unter anderem Elefanten, Giraffen, Affen, Bengalische und Weiße Tiger, asiatische Löwen, diverse Hirsch- und Vogelarten und verschiedene Krokodile, darunter die seltenen Gangesgaviale. Bis 1985 war der zugleich auch älteste Zoo des Landes im Zentrum der Stadt beheimatet, aufgrund von Platzmangel musste er dann jedoch an seinen heutigen Standort umziehen. Dort wurde er inmitten eines Waldes errichtet, der dem Bau zwar anfangs weichen musste, später aber unter Mithilfe von Anwohnern und Angestellten wieder aufgeforstet wurde. Der Zoo selber verfolgt das Ziel, vor allem gefährdete regionale und nationale Tierarten zu züchten und diesen dabei so viel Freiraum wie möglich zu lassen. Der Tag an sich war interessant, mit unserer kleinen Gruppe von sechs Leuten, die aus meiner Koordinatorin, einer ihrer Freundinnen, zwei Freiwilligen aus Pondicherry und deren Koordinatorin und mir bestand, hatten wir viel Spaß. Auf Fahrrädern, die blöderweise für alle Großgewachsenen viel zu klein waren, erkundeten wir das Gelände und staunten über viele der Tiere. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass wir uns dabei etwas abhetzten, vielleicht wäre eine Tour zu Fuß entspannter und zugleich informativer gewesen, aber vielleicht bin ich auch nur von europäischen Zoos verwöhnt. Ich muss aber ebenfalls sagen, dass sich mir der Eindruck aufdrängte, am Zoo selber habe sich seit einiger Zeit (seit der Eröffnung?) nicht mehr viel getan, in einigen Gehegen lagen Bretter herum und es entstand ein etwas schäbiger Gesamteindruck. Man muss aber hinzufügen, dass dies sicherlich auch dem Zyklon letzten Dezembers zuzuschreiben ist, dessen Folgen auch abseits des Zoos noch an vielen Stellen sichtbar sind. Zudem muss ich mich jedoch fragen, inwiefern in Indien überhaupt ein Bewusstsein für das Tierwohl und Zoos besteht. Zwar war der Eintritt für europäische Verhältnisse billig, im Inneren sah man trotzdem eher betuchte Familien mit Kindern, die auch nicht in Ehrfurcht die Tiere bestaunten, sondern stattdessen lärmend vor beispielsweise den Scheiben der Terrarien standen und Unruhe verbreiteten, während ihre Eltern an jeder Ecke ein Selfie machten (nicht umsonst macht eine indische Handymarke Werbung mit dem Slogan „Welcome to Selfiestan“). So weiß ich nicht so recht, was ich von diesem Ausflug halten soll, einerseits war allein die schiere Größe des Geländes neben vielen anderen positiven Aspekten beeindruckend, aber andererseits konnte ich nicht die Ruhe verspüren, die mich sonst so gerne in Zoos gehen lässt.

Samstag erlebte ich aus meiner Sicht das Highlight dieser Woche. Wir besichtigten am späten Nachmittag zwei alte Tempel, die sich im Nachbardorf befinden. Dabei erfuhr ich viele Details über die Vergangenheit dieser Gegend, aber auch über den Hinduismus im Allgemeinen, die mich zum eigentlichen Thema dieses Blogeintrags bringen: Der Religion.

Der Tempel Shivas
Die beiden Tempel wurden vor rund 1000 Jahren (angeblich habe sogar Marco Polo im 9. (!) Jahrhundert über diese in seinen Reiseberichten geschrieben) von den Königen der Pandya, die im Zenit ihrer Macht von Madurai aus große Teile Südindiens beherrschten, errichtet. Nach deren Untergang habe die Natur große Teile der Gegend zurückerobert, bis vor etwa 30 Jahren aufgrund der Überbevölkerung Chennais aus der Stadt ausgezogene Familien die zu dem Zeitpunkt bestehenden Baumbestände abgeholzt und dabei die Tempel wieder freigelegt und wieder angefangen haben, diese zu nutzen. Der größere Haupttempel ist Shiva geweiht, während im kleineren die Verehrung Perumals, also Vishnus, im Vordergrund steht. Dabei konnte ich zum ersten Mal das Tempelinnerste besichtigen, was mich zutiefst beeindruckt hat, die vielen unterschiedlichen Götterbildnisse, die Hingabe, mit der diese gereinigt und geschmückt werden, aber auch die architektonische Kunst, die sich meines Erachtens vor allem an den ausgeklügelten Bewässerungskanälen und -leitungen zeigt, die heutzutage aber nicht mehr in Benutzung sind. Davon ausgehend möchte ich einen kurzen allgemeineren Überblick über die religiöse Situation vor allem in Tamil Nadu geben, aber auch auf die Grundideen des Hinduismus eingehen.

Von den ca. 72 Millionen Einwohnern des Bundesstaates sind etwa 88 Prozent Hindu, 6 Prozent Christen und 6 Prozent Muslime. Andere Religionen wie der Jainismus sind nur sehr gering vertreten. Nach Kerala beherbergt Tamil Nadu in absoluten Zahlen die zweitmeisten Christen in ganz Indien, aber auch die Zahl der Hindus liegt weit über dem Landesdurchschnitt von 80 Prozent. Der Islam konnte sich dagegen weit weniger durchsetzen, als in Nordindien.

Mit etwa einer Milliarde Gläubigen ist der Hinduismus nach dem Christentum und dem Islam die am drittmeisten verbreitete Religion auf der Erde, wovon ca. 92 Prozent in Indien leben. Hier ist er der dominante Glaube, seit er sich im ersten nachchristlichen Jahrtausend gegen den bis dato vorherrschenden Buddhismus durchsetzte. Der Begriff geht ursprünglich auf die muslimischen Eroberer zurück, die ab dem frühen 8. Jahrhundert über den Indus in die Gangesebene vordrangen und dabei weite Teile Nordindiens unterwarfen. Aufgrund der Tatsache, dass die nichtmuslimischen Bewohner (arabisch „Dhimmi“) in historischen muslimischen Staaten eine Kopfsteuer zu leisten hatten. Um zwischen der eingewanderten muslimischen Bevölkerung und den alteingesessenen, andersgläubigen Bewohnern des Landes jenseits des Indus (persisch „Hindu“) zu differenzieren, wurde der Begriff als Sammelbezeichnung für alle Nicht-Muslime eingeführt. Diese steuerliche Unterscheidung wurde von allen nachfolgenden Reichen fortgeführt und auch schließlich von den Briten übernommen, die auf Grundlage der Verwaltungsstrukturen der Moguln arbeiteten. Die Bedeutung des Begriffs „Hindu“ ergibt sich also in erster Linie aus seiner Abgrenzung zum „Muslim“.

Ein Mandala zur Feier des Vollmondes

Unsere heißgeliebten europäischen Nachbarn von der Insel, die uns gerade mit ihren Brexit-Forderungen ein interessantes Schauspiel darbieten, waren es dann, die erstmals zwischen „Indern“ als Bewohner des Subkontinents und „Hindus“ als Anhänger der traditionellen Religionen im Gegensatz zu Christen und Muslimen unterschieden. Daraus entwickelte sich der „Hinduismus“ als Sammelbegriff. Dabei wurde jedoch übersehen, dass die Religionen, die unter diesem Begriff zusammengefasst wurden, keineswegs einheitlich waren, wie es der Begriff vorzugeben scheint. Stattdessen bezeichnet „Hinduismus“ eine Vielzahl unterschiedlichster Religionen und Strömungen, die monotheistischer, polytheistischer und dualistischer Natur sein können. Es gibt weder ein gemeinsames Glaubensbekenntnis, noch eine zentrale Institution, die für alle Hindus spricht, noch einen einzelnen Religionsstifter, sodass sich selbst die „Welt-Hindu-Konferenz“ schwertat, eine allgemeingültige Definition zu verfassen. Allerdings besteht zwischen den vielen einzelnen Glaubensrichtungen keine Konkurrenz, stattdessen können sie häufig in Eintracht feiern und beten, getreu dem Motto „Einheit in Vielfalt“.

Es ist sehr schwer, diese Vielfalt an Strömungen zu kategorisieren. In Indien selbst wird gemeinhin unterschieden zwischen dem brahmanischen Sanskrit-Hinduismus, der stark ritualisiert ist, sich auf die Veden beruft und vor allem von der Priesterkaste der Brahmanen getragen wird, dem dörflich-volksreligiösen Hinduismus, in dem teilweise polytheistische Elemente des Sanskrit-Hinduismus mit animistischen Elementen vermischt werden und in der Regel neben den Hochgöttern wie Vishnu, Shiva, Ganesha, etc. lokale Gottheiten und Hlden verehrt werden, und schließlich gestifteten Religionen, die sich auf einen einzelnen Religionsstifter berufen, der mit seinen Iden passiv oder aktiv den Anstoß für die Gründung einer neuen Bewegung gegeben hat. Außerhalb Indiens wird zwischen „großer“ und „kleiner Tradition“ unterschieden: Als „groß“ versteht man den brahmanisch-sanskritischen Hinduismus, der Merkmale einer Hochkultur aufweist (Priesterklasse, Hochgötter, einheitliche Texte), wohingegen unter „klein“ die Volksreligionen und Sekten/ gestifteten Religionen zu verstehen sind.

Gemeinhin unterscheidet man drei Hauptrichtungen des Hinduismus: Den Vishnuismus, den Shivaismus und den Shaktismus. Alle drei stellen jeweils eine Gottheit in das Zentrum ihrer Theologie, wobei es auch innerhalb dieser Richtungen unterschiedliche Strömungen gibt, die wiederum andere Glaubensprinzipien betonen und unterschiedliche Auffassungen über die Form der Gottheiten haben. So stellt der Vishnuismus Vishnu in den Vordergrund, der Shivaismus Shiva und der Shaktismus das weibliche Urprinzip bzw. weibliche Göttinen, die die treibenden Kräfte hinter den Handlungen ihrer jeweiligen männlichen Seiten sind. Allgemein gesprochen sind die Strömungen sehr vielfältig, jedoch gibt es überall jeweils einen höchsten persönlichen Gott oder die unpersönliche Weltseele (Brahman), der sich in vielerlei Formen, in der Regel als andere Gottheit, manifestiert. Ebenfalls populär ist die Darstellung Brahmas, Shivas und Vishnus als Trimurti (Dreiheit).

Das Innerste des Tempels

So unterschiedlich sie auch sind, so gibt es doch einige zentrale Konzepte, die vielen Ausrichtungen gemein sind. So durchlaufen alle Lebewesen im ewigen Kreislauf des Lebens und der Wiedergeburt, Samsara, die Weltzeitalter, Yuga. Während seiner Zeit auf Erden sammelt jedes Individuum abhängig von seinem Verhalten im Bezug auf das Dharma, die Ordnung, der alles unterliegt, Karma, in welchem die aus den Handlungen des Individuums entstandenen Konsequenzen beinhaltet sind. Das Karma wiederum beeinflusst die zukünftigen Reinkarnationen und die Erlösung (Moksha), die aus dem Aufgehen des Atman in Brahman besteht. Das Atman ist zu vergleichen mit einem kosmischen, unsterblichen Kern, ähnlich der Seelenlehre Platons. Die Erlösung ist das Ziel eines jeden Gläubigen und kann durch persönliche Erleuchtung erreicht werden. Zu dieser gelangt man, indem man, unter anderem, den Wegen des Bhakti Yoga, der liebenden Verehrung Gottes, des Karma Yoga, dem Weg der Tat, dem Jnana Yoga, dem Weg des Wissens oder dem Raja Yoga, dem „Königsweg“, folgt.

Natürlich beinhaltet der Hinduismus noch weitaus mehr, als ich hier auf die schnelle darstellen konnte, aber ich hoffe, ich konnte einen Überblick geben und vielleicht das Interesse des ein oder anderen wecken.

Hampi






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