Mittwoch, 31. Mai 2017

Woche Achteinhalb: Der Mythos des Sisyphos

« La lutte elle-même vers les sommets suffit à remplir un cœur d'homme. Il faut imaginer Sisyphe heureux. » - Albert Camus, Le mythe de Sisyphe, p. 168

Mit dem heutigen Tag liegen genau acht Wochen und fünf Tage hinter mir, und noch einmal die gleiche Zahl an Tagen vor mir: Es ist Halbzeit meines 17-wöchigen Freiwilligendienst. Meines Erachtens Grund genug, ein Zwischenresümee zu ziehen. Dabei möchte ich vor allem versuchen, in Worte zu fassen, wie ich mich während der ersten Zeit gefühlt habe und wie sich dies zwischenzeitlich verändert hat.

Sonnenuntergang in Mahabalipuram.
Die ersten Wochen waren geprägt davon, neue Eindrücke zu sammeln, irgendwie zu versuchen, in diesem neuen, riesigen und chaotisch-fremden Land zurechtzukommen. Das empfand ich häufig als sehr stressig, gerade der tägliche Weg zum Projekt zählt bis heute nicht zu meinen Tages-Highlights. Ich merkte, wie die Flut an Sinneseindrücken, die an jeder Ecke neu auf mich einprasselte, seine Weile brauchte, um verarbeitet zu werden. In diesen Wochen wachte ich müde auf und ging früh zu Bett, ich schlief fest und viel. Die Gewöhnung an das Klima, an eine andere Art, gerade mit Zeit und Verpflichtungen umzugehen, an das Essen, kosteten mich einiges an Kraft und waren nicht einfach. Nichtsdestotrotz erlebte ich auch viel Schönes, das On-Arrival-Camp gehörte beispielsweise dazu. Wie ich bereits in einem anderen Blogeintrag erwähnte, wirkte das Community Center von FSL-India wie eine Oase der Stille und des Friedens, so viele weltoffene, aufgeschlossene und sich so vieler Dinge bewusste Menschen auf einem Fleck hab ich seitdem nicht mehr getroffen, ganz abgesehen davon, dass viele der Einheiten sehr aufschlussreich und informativ waren und wir es insgesamt dort sehr komfortabel hatten. Natürlich soll das ganze jetzt nicht heißen, dass mir solche Charaktereigenschaften seitdem nicht mehr begegnet sind, im Gegenteil, sie sind sogar recht häufig, aber man hat den Mitarbeitern von FSL doch recht deutlich anmerken können, dass sie unheimlich viel Erfahrung mit jungen Menschen aus allen Teilen der Welt haben, die mit einer gewissen Erwartungshaltung in dieses Land kommen, und dass sie wissen, wie sie diesen Übergang so leicht und reibungslos wie möglich gestalten. Gleichzeitig ist der Bild eines Europäers auf den Straßen für viele etwas so ungewöhnliches, sodass man häufig angesprochen wird, die Gespräche aber nicht verfangen oder man einfach nur angestarrt wird. Zudem fehlt ein breites Umweltbewusstsein, was ich in Kundapur als sehr ausgeprägt empfand, wodurch alle Erfahrungen danach dahingehend einen absoluten Kontrast bildeten. Nicht vergessen werde ich das On-Arrival-Camp auch deshalb, weil ich die Atmosphäre innerhalb unserer Freiwilligengruppe als sehr angenehm empfand und ich das Gefühl hatte, obwohl ich neu zur Gruppe hinzukam, gut aufgenommen worden zu sein.

Ein majestätisch über den Felsen thronender Löwe.

Nachdem man sich so langsam zurechtgefunden hatte, kehrte der erste Alltag ein. Einerseits beruhigte mich dies, da ich mich mittlerweile an so manches Ungewöhnliches gewöhnt hatte, jedoch bemerkte ich, nachdem der erste Stress und die Eingewöhnung vorüber war, wie wenig mich die Arbeit im Projekt häufig befriedigte. Sicherlich tut mir die Arbeit mit den Tieren an sich unfassbar gut, man kann sich viel Zeit nehmen zum Verweilen und Nachdenken, es ist die so viel gerühmte Entschleunigung. Andererseits habe ich den Eindruck, dass wir uns, da wir drei Freiwillige sind, häufig Aufgaben wegnehmen und es schwierig ist, jeden ausreichend zu beschäftigen. Spannend wird es sein zu beobachten, wie sich dies mit der französischen Freiwilligen, die in etwa zwei Wochen zu uns stoßen soll, verändern wird. Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich tendenziell eher ein unruhiger, rastloser Mensch bin, der eine Beschäftigung benötigt, um nicht trüben Gedanken nachzuhängen. Leider ist dies viel zu selten der Fall. Nun habe ich mich jedoch dazu entschlossen, dies mit stoischem Gleichmut zu ertragen und das beste aus der Situation zu machen, weil ich die Dauer meines Freiwilligendienstes für zu kurz halte, als dass sich z.B. ein Projektwechsel lohnen würde. Allerdings gibt es auch gewisse Punkte, die mich nicht gerade in Glückseligkeit versetzen, ganz abgesehen von dem Mangel an Aufgaben. Da wäre beispielsweise das indirekt bereits angesprochene Umweltbewusstsein. Irgendwie verbinde ich mit einem Tierheim, dass es den Anspruch haben sollte, möglichst umweltschonend und nachhaltig zu operieren, da ein Nichteinhalten desselben zumindest in meiner Logik irgendwie den Gedanken konterkariert, den Tieren etwas gutes zu tun, zumindest, wenn man ihn zu Ende denkt. Denn was bringt es, den Hunden möglichst viel Auslauf zu lassen, wenn gleichzeitig überall Plastikmüllreste herumliegen. Die Krone setzt dem Ganzen meiner Meinung nach die Tatsache auf, dass die Mülleimer, die es tatsächlich gibt, letztlich doch irgendwann erst gefüllt und dann geleert werden, der Inhalt aber einfach auf einem Feld vor dem Tierheim verbrannt wird. Wenn man versucht, den Tieren im Heim etwas Gutes zu tun, aber nicht dazu beiträgt, dass sich die Situation außerhalb des Heims für die unzähligen anderen Straßentiere, die es hier in Indien nun mal gibt, zu verbessern, hat man sein Konzept meines Erachtens nicht zu Ende gedacht. Ich vermisse dabei die letzte Konsequenz. Vielleicht sollte man sich, allein aus praktischen Gründen, auch darüber Gedanken machen, Lampen und Ventilatoren auszuschalten, um Strom zu sparen oder möglichst wenig Wasser zu verschwenden; dies wären, neben dem Aspekt der Ressourcenschonung, einfache Mittel, Kosten zu sparen, was bei einem Projekt, dass sich ausschließlich durch Spenden finanziert, doch wünschenswert wäre, oder etwa nicht? Man muss dabei aber bedenken, dass dem ganzen auch enorme strukturelle Probleme zu Grunde liegen. Einrichtungen wie eine Müllabfuhr sind mir so, beispielhaft dafür, zutiefst selten unter die Augen gekommen, aber ebenso mangelt es an Mülleimern, Kläranlagen und der nötigen Bildung und Aufklärung in der Bevölkerung, um die Omnipräsenz des Mülls, ohne den man quasi keinen Blick mehr auf die Straße werfen kann, zu beseitigen.

Ein seltener Anblick: Rikscha im Regen.

Die trüben Gedanken, von denen ich oben sprach, sind ein ständiger Begleiter; mir fehlt hier so einiges. Die Diskussion beim Abendessen, die selbstgemachte Pizza am Freitagabend, ein eventuelles Glas Rotwein dabei, aber auch die Musik, das Fahrradfahren, der Regen (ja, das norddeutsche Schmuddelwetter fehlt mir tatsächlich!) und einfach die Präsenz mir vertrauter Menschen. Nicht selten fühle ich mich hier einsam, ohne jemanden, dem ich mich anvertrauen kann. Der Kontakt nach Hause über WhatsApp ist dabei nur ein schwacher Trost, denn wie viel mehr macht es aus, wenn eine Person physisch anwesend ist, statt nur digital, mit ihren Worten und Gedanken als Nachricht in einem Chat manifestiert. Ich muss auch gestehen, dass ich das Gefühl habe, weniger zu lachen, als sonst. Wahrscheinlich ist das ein Zeichen, dass ich mit vielem verkrampft umgehe, mich unbehaglich fühle, aber dass auch die gemeinsame Wellenlänge noch nicht so gefunden zu sein scheint.
Es ist paradox: Bin ich zu Hause, in vertrauter Umgebung, sehne ich mich nach der Ferne, danach, feststehende Gedanken und Meinungen aufzubrechen, zu revidieren und anzureichern mit Erfahrungen, neue Menschen kennenzulernen, andere Orte zu sehen, zu wachsen. Bin ich in der Ferne, so fehlt mir die Vertrautheit der Heimat, eine Mentalität, die ich einschätzen kann und die Bequemlichkeit von Zuhause. Vielleicht ist dieses Suchen nach dem richtigen Weg, der zur Zufriedenheit führt, das, was mir auferlegt ist, unabhängig davon, ob mir Erfolg vergönnt sein wird oder nicht. Dennoch werde ich guten Gewissens diesen Weg weitergehen und blicke gespannt darauf, was und wer mir in den nächsten achteinhalb Wochen widerfahren und begegnen wird.

Mit dem Zug von Avadi nach Hause. Lustigerweise ist Avadi ein Akronym, dass für Armoured Vehicles and Ammunition Depot of India steht und so den einzigen Produktionsstandort für Panzer in Indien benennt.






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